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Neunhundert Meter unter den Tragflächen der roten einmotorigen De Havilland Beaver glänzte der zugefrorene Koyukuk River im morgendlichen Mondlicht wie ein breites Band aus zersplitterten Diamanten. Alexandra Maguire folgte ihm in nördlicher Richtung aus der Kleinstadt Harmony. Der Frachtraum ihres Flugzeugs war beladen mit Vorräten für ihre heutige Liefertour zu einigen abgelegenen Siedlungen im Hinterland.

Neben ihr im Cockpit auf dem Passagiersitz saß Luna, die beste Copilotin, die sie je gehabt hatte. Natürlich abgesehen von ihrem Vater, der Alex alles über das Fliegen beigebracht hatte, was sie wissen musste. Die grau-weiße Wolfshündin ersetzte Hank Maguire jetzt schon seit ein paar Jahren, seit seine Alzheimer-Erkrankung zu weit fortgeschritten war, als dass er noch hätte fliegen können. Schwer zu glauben, dass er jetzt schon sechs Monate tot war, obwohl Alex oft das Gefühl hatte, dass er schon viel früher begonnen hatte, ihr zu entgleiten. Ein kleiner Trost war, dass die Krankheit, die seinen Verstand und seine Erinnerungen zerstörte, ihm so auch seinen Schmerz genommen hatte.

Jetzt lebten nur noch sie und Luna in dem alten Haus in Harmony und belieferten Hanks wenige Stammkunden in der Wildnis. Luna saß aufrecht neben Alex, die spitzen Ohren aufmerksam aufgestellt, die scharfen blauen Augen unablässig auf die dunkle, gedrungene Masse der Brookskette gerichtet, die den Horizont im Nordwesten begrenzte. Als sie den Polarkreis überflogen, wurde der Hund im Sitz unruhig und stieß ein leises, eifriges Winseln aus.

„Du willst mir doch nicht sagen, dass du Papa Toms' geräuchertes Elchfleisch schon von hier oben aus riechen kannst“, sagte Alex, streckte die Hand aus und wuschelte dem Hund über den großen, pelzigen Kopf, während sie über den mittleren Arm des Koyukuk in nördlicher Richtung weiterflogen, an den kleinen Dörfern Betties und Evansville vorbei. „Frühstück gibt's erst in zwanzig Minuten, altes Mädchen. Oder eher in dreißig, wenn diese schwarze Sturmwolke über dem Anaktuvuk Pass in unsere Richtung kommt.“ Alex beäugte die dunkle Gewitterwolke, die sich in einigen Meilen Entfernung von ihrer Flugroute zusammenballte. Laut Wetterbericht würde es wieder Schnee geben - in Alaska im November natürlich nicht ungewöhnlich, aber die besten Flugbedingungen für die heutige Liefertour waren es nicht, Alex stieß einen Fluch aus, als der Wind aus den Bergen stärker wurde und über das Flusstal hinwegfegte, um ihren sowieso schon turbulenten Flug noch etwas aufregender zu machen.

Gerade war das Schlimmste überstanden, als in der Tasche ihres Anoraks ihr Handy zu klingeln begann. Sie grub es aus und nahm den Anruf entgegen, ohne erst fragen zu müssen, wer am anderen Ende war.

„Hallo Jenna.“

Im Hintergrund im Haus ihrer besten Freundin konnte Alex eine Funkdurchsage der Nationalen Forstbetriebe hören, irgendetwas über die instabile Wetterlage und extrem fallende Wind-Kälte-Faktoren. „In ein paar Stunden gibt es Sturm auf deiner Route, Alex. Bist du schon gelandet?“

„Noch nicht ganz.“ Sie durchflog einige weitere Turbulenzen, als sie sich der Stadt Wiseman näherte, und lenkte das Flugzeug dann auf den Kurs, der sie zur ersten Station ihrer heutigen Liefertour bringen würde. „Ich bin jetzt etwa zehn Minuten vor Toms' Laden. Danach noch drei Stationen, sollte nicht länger dauern als je eine Stunde, sogar bei diesem üblen Gegenwind. Bis dahin ist der Sturm längst durchgezogen.“

Das war eher Hoffnung als professionelle Schätzung, eher Mitgefühl für ihre besorgte Freundin als Sorge um ihre eigene Sicherheit. Alex war eine gute Pilotin und von Hank Maguire zu gut ausgebildet, um etwas völlig Waghalsiges zu tun, aber es war nun mal so, dass die Vorräte in ihrem Frachtraum wegen des schlechten Wetters schon eine Woche überfällig waren.

Und verdammt noch mal, sie würde sich doch von ein paar Schneeflocken oder scharfen Windböen nicht davon abhalten lassen, den Leuten in den entlegenen Ecken des Hinterlandes, die vollständig auf sie angewiesen waren, ihre Lebensmittel und ihr Benzin zu bringen.

„Alles bestens hier, Jenna. Du weißt doch, dass ich vorsichtig bin.“

„Schon“, sagte sie. „Aber Unfälle passieren trotzdem, nicht?“

Alex hätte Jenna sagen können, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, aber genützt hätte es nichts. Ihre Freundin wusste so gut wie jeder andere, dass das inoffizielle Credo der Buschpiloten in etwa lautete wie das der Polizeibeamten: Du müsst da raus; ob du auch zurückkommst, ist zweitrangig.

Und wer wusste das besser als Jenna Tucker-Darrow, ehemalige Staatspolizistin aus einer alteingesessenen Polizistenfamilie und auch Witwe eines Polizisten. Sie schwieg einen Augenblick. Alex wusste, dass die Gedanken ihrer Freundin gerade eine düstere Wendung nahmen, also gab sie sich Mühe, die Stille mit Geplauder zu füllen.

 “Hör mal, als ich gestern mit dem alten Papa Toms geredet habe, hat er mir gesagt, dass er eben eine Riesenportion Elchfleisch geräuchert hat. Soll ich ihm eine Kostprobe für dich abschwatzen?“

Jenna lachte, aber sie klang, als wäre sie in Gedanken meilenweit fort. „Klar. Wenn du denkst, dass Luna das mitmacht, dann klar, gerne.“

„Gebongt. Das Einzige, was besser ist als Toms' geräuchertes Elchfleisch, sind seine heißen Buttermilchbrötchen. Und ich Glückspilz kriege von beidem was.“

Das Frühstück bei den Toms als Gegenleistung für die Warenlieferungen alle zwei Wochen war eine Tradition, die Alex' Vater angefangen hatte und die sie gerne weiterführte, auch wenn der Kerosinpreis den Preis von Toms'

schlichten Mahlzeiten inzwischen weit überstieg. Aber Alex mochte den Alten und seine Familie. Sie waren gute, einfache Leute, die immer noch ursprünglich auf demselben felsigen Stück Land lebten wie schon Generationen ihrer Vorfahren.

Der Gedanke, sich zu einem warmen, hausgemachten Frühstück zu setzen und sich mit dem alten Toms über die Ereignisse der letzten Woche zu unterhalten, wog den unruhigen Flug zu der abgelegenen Ansiedlung auf. Als sie den letzten Gebirgskamm überflog und zum Anflug auf die provisorische Landebahn hinter Toms' Laden ansetzte, stellte Alex sich den salzig-süßen Duft von geräuchertem Fleisch mit frischen Buttermilchbrötchen vor, die schon auf dem Holzofen für sie warm gehalten wurden.

„Hör mal, ich mach besser Schluss“, sagte sie zu Jenna. „Ich brauche beide Hände, um diese Kiste zu landen, und ich ...“

Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Auf dem Boden unter ihr fiel Alex etwas Seltsames ins Auge. In der Dunkelheit des Wintermorgens konnte sie das massige, schneebedeckte Ding nicht ganz ausmachen, das mitten in der Ansiedlung lag, aber was auch immer das war - bei dem Anblick stellten sich die Härchen in ihrem Nacken auf.

„Alex?“

Zuerst konnte sie nicht antworten, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das seltsame Objekt unter ihr gerichtet. Grauen kroch ihr den Rücken hinauf, so kalt wie der Wind, der gegen ihre Windschutzscheibe schlug.

„Alex, bist du noch da?“

„Ich, äh ... ja, bin da.“

„Was ist los?“

„Bin mir nicht sicher. Ich sehe Toms' Laden vor mir, aber irgendwas stimmt nicht da unten.“ „Was meinst du?“

„Weiß nicht genau.“ Alex spähte aus dem Fenster des Cockpits, als sie in Vorbereitung auf die Landung näher heranflog. „Da liegt was im Schnee.

Bewegt sich nicht. Oh mein Gott... ich glaube, da unten liegt einer.“

„Bist du sicher?“

„Weiß nicht“, murmelte Alex in ihr Handy, aber so, wie ihr Puls hämmerte, hatte sie keinen Zweifel, dass dort unter der frischen Schneedecke ein Mensch lag.

Und zwar ein toter Mensch, wenn er schon ein paar Stunden unbemerkt in dieser Eiseskälte gelegen hatte.

Aber wie konnte das sein? Es war fast neun Uhr morgens. Auch wenn es so hoch im Norden erst gegen Mittag hell wurde, hätte der alte Toms schon seit Stunden wach sein müssen. Die anderen Leute in der Ansiedlung, seine Schwester und ihre Familie, müssten blind sein, um nicht zu bemerken, dass einer von ihnen nicht nur fehlte, sondern direkt vor ihrer Haustür lag und erfror.

„Rede mit mir, Alex“, sagte Jenna jetzt mit ihrer Polizistenstimme, die Gehorsam forderte. „Sag mir, was da los ist.“

Als sie zum Landeanflug ansetzte, bemerkte Alex unten auf dem Boden eine weitere beunruhigende Gestalt - diese lag zwischen Toms' Hütte und dem Waldrand, der die Ansiedlung umgab. Der Schnee um den Körper war blutgetränkt, dunkle Flecken sickerten in entsetzlicher Intensität durch die frische weiße Schneedecke.

„Oh Jesus“, zischte sie leise. „Jenna, das ist übel, da ist was Schreckliches passiert. Das sind mehr als einer. Sie wurden irgendwie ... verletzt.“

„Da sind Verletzte?“

„Tote“, murmelte Alex, ihr Mund war plötzlich trocken, als ihr zur Gewissheit wurde, was sie da sah. „Oh Gott, Jenna ... da ist Blut. Eine Menge.“

„Scheiße“, flüsterte Jenna. „Okay, Alex, hör zu. Ich will, dass du jetzt am Telefon bleibst. Dreh um und komm zurück in die Stadt. Ich funke Zach an, solange ich dich hier am Telefon habe, okay? Was immer da passiert ist, Zach soll sich drum kümmern. Geh nicht in die Nähe ...“

„Ich kann sie nicht alleine lassen“, stieß Alex hervor. „Da unten sind womöglich noch Verletzte. Vielleicht braucht jemand Hilfe. Ich kann nicht einfach umdrehen und sie alleine lassen. Oh Gott. Ich muss landen und sehen, ob ich was tun kann.“

„Alex, verdammt, mach jetzt bloß keinen ...“

„Muss Schluss machen“, sagte sie. „Bin kurz vor der Landung.“

Trotz Jennas wiederholter Befehle, die Situation ihrem Bruder Zach Tucker zu überlassen, dem einzigen Polizeibeamten in einem Umkreis von hundert Meilen, beendete Alex das Gespräch und setzte die Kufen der Beaver sanft auf dem kurzen Landestreifen auf. Sie machte eine Vollbremsung im frischen Pulverschnee - nicht die eleganteste Landung, aber auch nicht schlecht, wenn jedes Nervenende im Körper vor wachsender Panik schrie. Sie schaltete den Motor aus, und sobald sie die Tür des Cockpits geöffnet hatte, sprang Luna über ihren Schoß ins Freie und rannte auf die gedrängte Ansammlung von Blockhütten zu.

„Luna!“

Alex' Stimme hallte in der gespenstischen Stille. Der Wolfshund war jetzt außer Sichtweite. Alex kletterte aus dem Flugzeug und rief ein weiteres Mal nach Luna, aber nur Stille antwortete ihr. Und aus den nahe gelegenen Hütten kam niemand, um sie zu begrüßen.

Keine Spur von Toms in seinem Laden, nur dreißig Meter entfernt. Auch keine Spur von Teddy, der Luna trotz seiner gleichgültigen Teenager-Fassade genauso heiß und innig liebte wie der Hund ihn. Auch kein Zeichen von Toms'

Schwester Ruthanne, auch nicht von ihrem Mann und den erwachsenen Söhnen, die im November normalerweise schon lange vor dem späten Sonnenaufgang auf den Beinen waren und sich um die in der Ansiedlung anfallenden Arbeiten kümmerten. Alles war völlig still und unbelebt.

„Scheiße“, flüsterte Alex, ihr Herz schlug wie ein Presslufthammer.

Was zur Hölle war hier passiert? In was für eine Gefahrensituation lief sie hier hinein, sobald sie aus ihrem Flugzeug stieg?

Als sie nach hinten in den Frachtraum griff und sich ihr geladenes Gewehr schnappte, sah sie das schlimmstmögliche Szenario vor sich. Mitten im Winter im Hinterland kam es manchmal vor, dass jemand durchdrehte und seine Nachbarn angriff oder sich selbst etwas antat - womöglich beides kurz nacheinander. Sie wollte gar nicht daran denken und konnte sich auch niemanden vorstellen, der in diesem engen Familienverband einfach durchdrehte. Nicht einmal den mürrischen Teddy, um den der alte Toms sich in letzter Zeit Sorgen machte, weil er sich mit üblen Leuten herumtrieb.

Das Gewehr im Anschlag kletterte Alex aus dem Flugzeug und ging los in die Richtung, in die Luna gerannt war. Die frische Schneedecke von letzter Nacht war pulverig weich unter ihren Stiefeln und dämpfte das Geräusch ihrer Schritte, als sie sich vorsichtig Toms' Laden näherte. Die Hintertür war unverriegelt, halb aufgezwängt von einer Schneewehe, die sich auf der Schwelle gebildet hatte. Hier war schon seit ein paar Stunden niemand mehr gewesen, um nach dem Rechten zu sehen.

Alex schluckte den Angstklumpen in ihrem Hals, der ständig größer wurde, hinunter. Jetzt wagte sie nicht mehr, nach jemandem zu rufen. Sie wagte kaum noch zu atmen, als sie weiterging, vorbei am Laden zu der gedrängten Ansammlung kleiner Blockhütten. Lunas Gebell ließ sie zusammenschrecken.

Der Wolfshund saß in ein paar Metern Entfernung, zu seinen Füßen eine der leblosen Gestalten, die Alex aus der Luft entdeckt hatte. Luna bellte noch einmal, dann stupste sie den Toten mit der Nase an, als versuchte sie, ihn zum Aufstehen zu bewegen.

„Oh Herr im Himmel ... wie kann das sein?“, flüsterte Alex, sah sich noch einmal in der stillen Ansiedlung um und packte ihr Gewehr fester. Ihre Füße fühlten sich wie Bleigewichte an, als sie auf Luna und die reglose, schneebedeckte Gestalt auf dem Boden zuging. „Braves Mädchen. Jetzt bin ich da. Lass mich mal sehen.“

Oh du lieber Gott, sie musste gar nicht näher rangehen, um zu sehen, dass es Teddy war, der dort lag. Aus dem zerfetzten, blutdurchweichten Daunenanorak sah ein schwarz-rotes Flanellhemd hervor, das Lieblingshemd des Jungen. Sein dunkelbraunes Haar war an Wange und Stirn vereist, seine olivfarbene Haut gefroren und wachsartig, blau angelaufen, wo sie nicht ziegelrot verkrustet war von geronnenem Blut. Und wo einmal sein Kehlkopf gewesen war, klaffte eine riesige Wunde.

Alex setzte sich auf die Hacken zurück und holte keuchend Luft, als die Realität dessen, was sie da sah, mit voller Gewalt von ihr Besitz ergriff. Teddy war tot. Er war doch nur ein Junge, verdammt noch mal, und jemand hatte ihn abgeschlachtet wie ein Tier und einfach hier liegen lassen.

Und er war nicht der Einzige in dieser abgelegenen Ansiedlung, den dieses Schicksal ereilt hatte. In ihrem Schock trat Alex von Teddys Leiche zurück und sah sich wild zum umliegenden Gelände und den Häusern um. Die Tür der gegenüberliegenden Blockhütte war aus den Angeln gerissen, und vor einer der anderen lag eine weitere reglose Gestalt. Und noch eine direkt unter der offenen Tür eines Pritschenwagens, der an einem alten hölzernen Lagerschuppen stand. „Oh Gott. . . nein.“

Und dann war da der Tote, den sie schon von ihrem Landeanflug aus gesehen hatte - der aussah wie der alte Toms, tot und blutüberströmt am Waldrand hinter seinem Haus.

Sie packte ihr Gewehr fester, auch wenn sie bezweifelte, dass der Mörder - oder vielleicht waren es auch mehrere gewesen, beim Ausmaß dieses Gemetzels hier - noch in der Nähe war. Alex fand sich wieder, wie sie langsam auf diesen nassen, blutgetränkten Schneestreifen am Waldrand zuging, mit Luna dicht auf den Fersen.

Mit jedem Schritt zogen sich Alex' Herz und Magen stärker zusammen. Sie wollte den alten Toms nicht so sehen, wollte niemanden, der ihr am Herzen lag, abgeschlachtet, verstümmelt und blutüberströmt sehen ... nie wieder.

Und doch bewegten sich ihre Füße wie von selbst, und genauso wenig konnte sie sich zurückhalten, neben der grausigen, bäuchlings liegenden Leiche des Mannes niederzuknien, der sie immer mit einem Lächeln und einer bärigen Umarmung begrüßt hatte. Alex legte ihr Gewehr neben sich in den roten Schnee. Mit einem würgenden, wortlosen Aufschrei streckte sie die Hand aus, nahm den riesenhaften Mann an der Schulter und drehte ihn um. Das verwüstete Gesicht, das blicklos zu ihr aufstarrte, ließ Alex das Blut in den Adern gefrieren. Seine einst so heiteren Züge waren in einer Maske absoluten Entsetzens erstarrt. Alex konnte sich auch nicht annähernd vorstellen, was er im Augenblick seines Todes gesehen haben musste.

Obwohl…

Die alte Erinnerung sprang sie aus einer dunklen, verschlossenen Ecke ihrer Vergangenheit an. Alex spürte ihren scharfen Biss, hörte die Schreie, die die Nacht zerrissen und ihr Leben für immer zerstört hatten.

Nein.

Diesen Schmerz wollte Alex nicht wieder erleben. Sie wollte nicht an diese Nacht zurückdenken, und schon gar nicht jetzt, umgeben von all diesen Toten, völlig allein. Sie konnte nicht ertragen, die Vergangenheit ans Licht zu holen, die sie vor achtzehn Jahren Tausende von Meilen hinter sich gelassen hatte.

Aber die Vergangenheit kroch in ihre Gedanken zurück, als wäre es erst gestern gewesen. Und als ob es gerade wieder passierte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass derselbe Schrecken, den sie und ihr Vater vor so langer Zeit in Florida überlebt hatten, irgendwie gekommen war, um diese unschuldige Familie in der isolierten Wildnis Alaskas heimzusuchen. Alex würgte ein Schluchzen zurück und wischte sich die Tränen ab, die ihr auf den Wangen brannten, als sie auf ihrer Haut gefroren.

Lunas leises Grunzen neben ihr unterbrach Alex' Gedanken. Die Hündin grub neben der Leiche die Schnauze in den Pulverschnee, offenbar hatte sie einen Geruch aufgefangen. Dann ging sie vorwärts und folgte der Duftspur auf die Bäume zu. Alex stand auf, um zu sehen, was Luna gefunden hatte. Zuerst sah sie es nicht. Und als sie es sah, konnte ihr Verstand den Anblick gar nicht verarbeiten.

Es war ein blutiger Fußabdruck, teilweise vom Neuschnee verdeckt. Ein menschlicher Fußabdruck, der mindestens einem Stiefel der Größe fünfzig entsprach. Und der Fuß, der ihn hinterlassen hatte, war nackt gewesen. In dieser tödlichen Kälte mehr als unwahrscheinlich - es war schlichtweg unmöglich.

„Was zum Teufel ... ?“

Entsetzt packte Alex Luna am Nackenfell und hielt sie fest an ihrer Seite, bevor der Hund der Fußspur noch weiter nachging. Sie folgte ihr mit den Augen bis zu dem Punkt, wo sie verblasste und im Schnee verschwand. Es ergab keinen Sinn.

Nichts von alldem ergab irgendeinen Sinn in der Wirklichkeit, wie sie sie sehen wollte.

Im Flugzeug hörte sie ihr Handy klingeln, begleitet vom dumpfen Knistern der Funkanlage der Beaver, aus der eine aufgebrachte Männerstimme quäkend um Meldung bat.

„Alex, verdammt! Bitte kommen! Alex?“

Dankbar für die Ablenkung nahm sie ihr Gewehr auf und rannte zum Flugzeug zurück, Luna dicht an ihrer Seite, ganz der vierbeinige Bodyguard, der sie wirklich auch war.

„Alex!“ Wieder schrie Zach Tucker ihren Namen über den Äther. „Wenn du mich hören kannst, Alex, geh endlich ran!“

Sie beugte sich über den Sitz und schnappte sich das Funkgerät. „Roger“, sagte sie atemlos und zitternd. „Ich bin hier, Zach, und sie sind alle tot. Der alte Toms. Teddy. Alle.“

Zach zischte einen Fluch. „Und du? Bist du in Ordnung?“

„Ja“, murmelte sie. „Oh mein Gott. Zach, wie konnte das passieren?“

„Ich kümmere mich drum“, sagte er zu ihr. „Und jetzt musst du mir sagen, was du sehen kannst, du musst mir alles genau beschreiben, okay? Hast du irgendwelche Waffen gesehen, irgendeine Erklärung dafür, was da draußen passiert sein könnte?“

Alex warf einen trostlosen Blick zurück auf das Gemetzel in der Ansiedlung.

Die Menschen, deren Leben so gewaltsam beendet worden war. Das Blut, das sie im eisigen Wind schmecken konnte.

„Alex? Hast du irgendeine Ahnung, wie diese Leute getötet wurden?“

Sie presste die Augen zu vor dem Ansturm der Erinnerungen, der über sie hereinbrach - die Schreie ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders, die verzweifelten Rufe ihres Vaters, als er die neunjährige Alex hochriss und mit ihr in die Nacht floh, bevor die Monster sie alle töten konnten.

Alex schüttelte den Kopf, versuchte verzweifelt, diese schreckliche Erinnerung abzublocken ... und den Gedanken, dass diese Morde der letzten Nacht genau dieselbe Handschrift trugen. Es war derselbe undenkbare Schrecken.

„Sprich mit mir“, redete Zach ihr zu. „Hilf mir zu verstehen, was passiert ist, Alex, wenn du kannst.“

Doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Sie blieben in ihrer Kehle gefangen, geschluckt von dem eisigen Abgrund der Angst, der sich mitten in ihrer Brust aufgetan hatte.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie, und ihre Stimme klang abwesend und hölzern in der Stille der leblosen, eisigen Wildnis. „Ich kann dir nicht sagen, wer oder was das gewesen ist. Ich kann nicht...“

„Ist schon okay, Alex. Ich weiß, du musst völlig durcheinander sein. Komm jetzt einfach heim. Ich habe schon Roger Bemis draußen am Flugplatz angerufen. Er fliegt mich noch in der nächsten Stunde hier raus, und wir kümmern uns um die Toms, in Ordnung?“

„Okay“, murmelte sie.

„Jetzt wird alles wieder gut, das verspreche ich dir.“

„Okay“, wiederholte sie und spürte, wie ihr eine weitere Träne die kalte Wange hinabrann.

Genau das hatte ihr Vater vor all den Jahren auch zu ihr gesagt - ihr versprochen, dass alles wieder gut werden würde. Sie hatte ihm nicht geglaubt.

Nach allem, was sie heute hier gesehen hatte, und mit dem Gefühl, dass sich um sie herum schon wieder etwas unsagbar Böses zusammenbraute, fragte sich Alex, ob in ihrem Leben überhaupt jemals wieder etwas gut werden konnte.

Skeeter Arnold nahm einen tiefen Zug von seinem fetten Joint und lehnte sich in seinem ramponierten hellblauen Fernsehsessel zurück, dem besten Möbelstück in seiner vermüllten Einliegerwohnung im Haus seiner Mutter in Harmony. Er hielt den Rauch tief in den Lungen, schloss die Augen und lauschte dem Geplärr des Kurzwellenempfängers auf der Küchenablage. Bei seiner Art von Geschäften hielt Skeeter es für angeraten, nicht nur den Polizeifunk der Staatspolizei abzuhören, sondern auch die Hinterwäldler, die so bescheuert waren, dass sie alle naselang den Notruf brauchten.

Und klar, er hörte auch deshalb gern zu, weil er am Unglück anderer Leute auf perverse Art seinen Spaß hatte. Es war einfach nett, gelegentlich daran erinnert zu werden, dass er nicht der größte Versager im ganzen Staat von Alaska war, egal, was seine Schlampe von Mutter ihm regelmäßig sagte.

Skeeter atmete langsam aus, dünner Rauch kringelte sich um den Fluch, den er murmelte, als das Knarren und Ächzen der alten Dielenbretter ihm ankündigte, dass die alte Nervensäge den Flur hinunter zu seinem Zimmer gestampft kam.

„Stanley, hast du nicht gehört, dass ich dich gerufen habe? Hast du vor, den ganzen Tag da drin zu verpennen?“ Ein paarmal schlug sie mit der Faust gegen die Tür, dann rüttelte sie heftig, aber vergeblich an der Türklinke. Er wusste schon, warum er immer abschloss. „Hab ich dich nicht gebeten, gleich heute früh loszufahren und Reis und Bohnenkonserven einzukaufen? Worauf zum Teufel wartest du, auf die Schneeschmelze im Frühling? Heb deinen faulen Arsch und tu zur Abwechslung mal was Nützliches!“

Skeeter machte sich weder die Mühe zu antworten, noch rührte er sich auf seinem Sessel, und er verzog auch keine Miene, als seine Mutter weiterschimpfte und gegen die Tür bollerte. Er nahm einen weiteren genüsslichen Zug von seinem Joint und ignorierte die Harpyie vor seinem Zimmer, denn er wusste, dass sie irgendwann genug haben und sich wieder vor ihre Glotze verziehen würde, wo sie hingehörte.

Um sie in der Zwischenzeit auszublenden, griff Skeeter nach der Funkanlage und drehte die Lautstärke hoch. Der einzige Ordnungshüter von Harmony, Trooper Zachary Tucker, klang heute, als hätte er die Hosen gestrichen voll.

Da musste was ziemlich Großes passiert sein.

„Stanley Arnold, glaub bloß nicht, dass du mich übertönen kannst, du jämmerlicher Nichtsnutz von Sohn!“ Wieder hämmerte seine Mutter gegen die Tür, dann stürmte sie davon und schimpfte den ganzen Weg über den Flur weiter vor sich hin. „Genau wie dein Vater, keinen Furz bist du wert. Aus dir wird nie was!“

Skeeter stand von dem Fernsehsessel auf und stellte sich näher an die Funkanlage, als Tucker, der gerade den Jungs von der Staatspolizei in Fairbanks Meldung machte, die Koordinaten eines Tatortes mit offenbar mehreren Toten durchgab - wahrscheinlich Mord, sagte er -, etwa vierzig Meilen draußen in der Wildnis. Tucker wartete auf den Lufttransport von einem der beiden Piloten von Harmony. Er gab an, dass der andere, Alex Maguire, die Leichen auf einer Liefertour entdeckt hatte und sich momentan auf dem Rückflug in die Stadt befand.

Skeeter lauschte aufgeregt. Die Gegend, von der da die Rede war, kannte er sehr gut. Hölle noch mal, er war doch erst gestern Abend mit Chad Bishop und ein paar anderen da draußen gewesen. Sie waren am Fluss gewesen, hatten sich zugedröhnt und gesoffen ... und dann hatten sie Teddy Toms gepiesackt!

So, wie sich das Ganze anhörte, musste es die Ansiedlung von Teddys Familie sein, von der die Cops redeten.

„Verfickt und zugenäht“, flüsterte Skeeter und fragte sich, ob das wohl möglich war. Nur um sicherzugehen, schrieb er sich die Koordinaten in die Handfläche, dann wühlte er sich durch einen Stapel unbezahlter Rechnungen und anderen Müll, bis er die mit Bierflecken übersäte Karte der Gegend fand, die er die letzten Jahre über als Untersetzer benutzt hatte. Er triangulierte die Stelle auf der Karte, und Ungläubigkeit und eine perverse Art von Verwunderung breiteten sich in ihm aus.

„Scheiße, das gibt's doch nicht“, sagte er und nahm noch einen tiefen Zug von seinem Joint, dann drückte er ihn auf dem brandfleckenübersäten Resopaltisch aus, um sich den Rest für später aufzuheben. Er war zu aufgeregt, um ihn jetzt fertig zu rauchen. Brennend vor Neugier tigerte er in dem engen Zimmer auf und ab.

Waren der alte Toms oder sein Schwager ausgetickt? Oder war es Teddy gewesen, der sich endlich von der Leine gerissen hatte? Vielleicht war der Kleine heimgegangen und durchgedreht, nachdem Skeeter und die anderen ihn letzte Nacht am Fluss heulend davongejagt hatten?

All das, dachte Skeeter, würde er schon bald wissen. Er hatte schon immer einen Toten aus der Nähe sehen wollen. Wenn er Bohnen und Reis für seine Mutter besorgte, würde er auf dem Weg zum Laden einfach einen kleinen Abstecher machen.

Ja, und vielleicht würde er den Laufburschenscheiß diesmal ganz weglassen und zur Abwechslung einfach mal tun, was er  wollte.

Skeeter schnappte sich sein Handy - das neue mit Videokamera und dem coolen Totenschädel auf dem Gehäuse - und fischte den Schlüssel seines Yamaha-Schlittens aus dem Chaos auf dem Tisch. Er machte sich nicht die Mühe, seiner Mutter zu sagen, wohin er ging, sondern zog einfach nur seine Wintersachen über und ging in die eisige Kälte des Tages hinaus.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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